Zwillinge
Die beiden wachten nahezu gleichzeitig auf. Ihr Krähen klang wie das kleiner Vögel. Wie diese sperrten sie die Münder auf und verlangten nach Futter.
Sie hatte es sich nicht so anstrengend vorgestellt, Kinder zu haben. Die Zwillinge brachten sie an ihre Grenzen. War sie eine schlechte Mutter? War es normal, sehnsuchtsvoll an das Leben davor zu denken? Als sie schlafen konnte, ohne mitten in der Nacht geweckt zu werden.
Sie ging zu den beiden Wiegen und betrachtete ihre Kinder. Lizzy und Sissi waren kaum zu unterscheiden. Lizzy hatte ein Muttermal am linken Oberarm, Sissi am rechten. Sie überlegte, ob die beiden ihre Verwechselbarkeit zu ihrem Vorteil nutzen könnten. Oder sie selbst. Sie könnte nur eine von den beiden zur Schule schicken, nur eine Ausbildung finanzieren, eine Krankenversicherung bezahlen.
Müde schaukelte sie die Wiegen sanft hin und her. Beide Kinder blickten sie mit großen dunklen Augen an. Sie wusste, dass Babys in diesem Alter nur schemenhaft sehen konnten, trotzdem fühlte sie sich aufmerksam betrachtet.
Wie ein eingespieltes Team wirkten die Zwillinge, eine alte Seele in getrennten Körpern, untrennbar verbunden. Alle Babys sahen aus wie Greise, deren Augen in Welten sahen, die im Laufe ihres Menschenlebens immer mehr verschwinden würden. Noch war die Verbindung da, die beiden kleinen Aliens waren noch nicht ganz hier angekommen. Ihre Seele hatte sich noch nicht damit abgefunden, in Körper geschlüpft zu sein, deren Gebrauch sie erst lernen mussten. Unbeweglich blieben die Zwillinge dort liegen, wo man sie ablegte. Sie konnten ihre Münder aufsperren, mit den Ärmchen rudern und den Beinchen strampeln. Ansonsten waren sie komplett hilflos – das war das, was sie am meisten erschreckte. Würde sie der Aufgabe gerecht werden? War sie nicht selbst orientierungslos? Was würden Lizzy und Sissi ihr später vorwerfen? Das würde schon bei den Namen anfangen und bei Vorhaltungen über mangelnde Empathie enden.
Die Frage nach dem Vater konnte sie ihnen auch nicht beantworten, der Samenspender hatte anonym bleiben wollen. Nur durch eine großzügige Spende hatte das Institut „Sanfter Schoß” sich überreden lassen, bei ihr als 48jähriger Singlefrau eine künstliche Befruchtung durchzuführen. Als sie auf der Liste mit den gewünschten Eigenschaften des Spenders maximal zehn ankreuzen durfte, hatte sie nicht lange überlegt. Intelligent, gebildet, groß. Wie dumm von mir, dachte sie im Nachhinein. Bildung ist kein Erbgut. Was war erblich? Hätte sie nicht besser auf Gesundheit, hohes Lebensalter der Vorfahren und Schönheit achten sollen? Stattdessen hatte sie humorvoll, großzügig, charmant und tolerant angekreuzt. Einzig die Augenfarbe war die richtige Entscheidung gewesen, denn braun war dominant und sie wollte, dass ihre Kinder nicht wie sie eine undefinierbare Augenfarbe bekämen. Als zehnte Eigenschaft hatte sie musikalisch gewählt, vielleicht war wenigstens das vererbbar.
Hatte sie ihren Traummann beschrieben, anstatt für ihre Kinder einen guten Vater auszusuchen? Dass es Zwillinge werden würden, war sehr wahrscheinlich gewesen, aber das hatte sie verdrängt. Im Nachhinein war sie dankbar, dass es nur zwei und nicht drei oder vier geworden waren. Hatte sie sich mit den beiden ein Denkmal setzen wollen? Futter für Social Media? Eine strahlende Mutter, in pastellfarbenen Leinenblusen, das Kind mit einem Retro-Sonnenkäppchen stets fröhlich aus seinem Retro-Kinderwagen mit extraweicher Federung lächelnd. Die Georg Clooneys im Park hätten sich gerne zu ihr auf die Bank gesetzt und ihr gesagt, was für eine hübsche Mutter sie sei. Einer davon wäre kürzlich Witwer geworden, seine Frau bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen. Sie würden sich näherkommen, gemeinsam die Kinder am Spielplatz beaufsichtigen und irgendwann wie selbstverständlich zusammenziehen.
Wer war der Vater ihrer Kinder? Warum durfte sie das nicht wissen? Vielleicht würde er seine Töchter gerne kennenlernen?
Sie nahm die beiden aus der Wiege, legte sie an ihre Brust und lauschte ihrem zufriedenen Schmatzen. Wenigstens das funktionierte. Stillen war gut für das Immunsystem. Die beiden tranken im Gleichtakt, zeitgleich schliefen sie an ihrer Brust ein. Die Verbindung zwischen den beiden erschien ihr stärker als die zu ihr. Zwei gegen eine – für immer.
Ich bin erschöpft, deswegen habe ich solche Gedanken, dachte sie und streckte sich auf dem Bett aus, links und rechts die Zwillinge im Arm. Ihre drei Herzen schlugen im Gleichtakt, als sie ins Traumland hinüberglitten.