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Kurzgeschichte Nr. 02

Die Schachtel

Die Schachtel machte einen harmlosen Eindruck. Er hatte sie bei ihr auf dem Tisch liegen sehen und schon oft in die Hand genommen. Die Aufschrift Nepomur sagte ihm nichts. Gedankenverloren hatte er sie in der Hand gehalten und mehr die Farbe als die Schrift betrachtet. Hellgrün. Eigentlich nicht seine Farbe, aber hier gefiel sie ihm. 54 x 85 Millimeter, dachte er automatisch, so groß wie eine Visitenkarte. Zwei Zentimeter hoch. Im Bad hörte er Wasser laufen. Zwischendrin die Klospülung. Etwas klickerte auf der Porzellanablage, eine Spraydose wurde betätigt. Gummibänder schnalzten, begleitet von einem leichten Stöhnen. Er meinte die Worte ach und heute herauszuhören. Dann war es still. Er lauschte. Ein letztes Klackern, dann öffnete sie die Badezimmertür.

„Guten Morgen, mein Lieber. Wie geht es dir heute?”

Sie hatte ein wenig Lippenstift und Rouge aufgelegt, so dezent, dass man es erraten musste. Die alte Generation schminkte sich unsichtbar, genauso wie sie Labels im Inneren der Kleidung den vorne aufgedruckten vorzog.

„Wie geht es dir?”, antwortet er. „Was machen die Schmerzen?”

„Lass uns von etwas anderem reden. Es ist ein so schöner Tag heute. Wie geht es Anna und den Kindern?”

„Sie sind am Spielplatz. Das schöne Wetter ausnutzen.”

„Wenn ich sterbe, möchte ich an einem Tag wie heute gehen. Im Liegestuhl, auf meiner Terrasse, um mich rum die zwitschernden Vögel. Wie heute.”

„Denkst du ans Sterben?”

„Wer tut das nicht? Ich denke daran, seit ich denken kann.”

„Und das Leben? Denkst du da auch dran?”

„Natürlich. Immer. Aber das Leben wird mühsam. Ich komm ja gar nicht mehr vor die Tür. Bin viel alleine. Essen ist jetzt mein größtes Hobby, aber selbst der Geschmackssinn lässt nach, auch ohne Corona.”

„Wie steht’s mit Lesen?”

„Meine Augen ermüden schnell, aber ich höre gerne Hörbücher.”

Sie schwiegen und schauten im Zimmer herum. Sie zu den Zimmerpflanzen, er auf den Tisch. Er legte die Schachtel zurück.

„Sind die gegen die Schmerzen?”

Sie schaute ihn lange an und wendete den Kopf zum Regal mit den Familienfotos. „Manchmal habe ich Sehnsucht. Dann frage ich mich, wo sie jetzt sind. Meine Eltern. Dein Vater. Sie haben es überlebt, denke ich dann. Dabei sind sie tot. Aber der Satz kommt mir immer wieder in den Sinn. Vielleicht leben sie noch. Nur anders. Wer weiß das schon.”

„Der Arzt hat gesagt, es kann noch Jahre gut gehen. Vielleicht brauchst du mal eine Abwechslung? Ich könnte einen Ausflug mit dir machen.”

Sie streichelte die Stoffkatze, die neben ihr auf der Bank lag. Die Kinder hatten sie ihr geschenkt, als Ersatz für Mimi, die letztes Jahr gestorben war.

„Am Ende ist man allein. Jeder muss allein gehen. Keiner hat je erzählt, wie es war. Keiner, der wirklich tot war, ist zurückgekommen. Ich glaube, es wird ein Heimkommen sein. Zurück an einen Ort, wo es weder Hass noch Schmerzen, noch Krieg gibt.”

„Denkst du oft an den Krieg?”

„Ich schau keine Nachrichten mehr an. Es ist wie damals und sie jubeln ihm zu. Das möchte ich nicht noch einmal erleben.”

Er stand auf und öffnete das Fenster. Kinderstimmen mischten sich mit Vogelgezwitscher. „Sie haben noch ihr ganzes Leben vor sich. Ich dachte, für unsere Kinder würde es anders werden.”

„Schlimmer als die Nächte im Bombenkeller war damals der Gedanke, dass wir uns das selbst antun.” Ihr Blick verlor sich in einer unsichtbaren Ferne.

Er nahm eines der Familienfotos in die Hand. Seine Eltern in Bundhosen, verschwitzt an einem Brunnen in den Bergen.

„Ihr seid mit uns oft in die Berge gegangen. Daran erinnere ich mich gerne. Die Stille, die Weite.” Er reichte ihr das Bild. Sie strich mit den Fingern über den Rahmen.

„In den Bergen haben wir uns kennengelernt. Dein Vater war sehr charmant. In den Bergen konnte man die Trümmer der Städte vergessen.”

Zuhause googelte er Nepomur. Eine Schweizer Firma. Versand nur nach eingehender Beratung und frühestens 8 Wochen nach dem Erstgespräch. Hatte sie die Schachtel mit Absicht offen liegen lassen? Er würde sie morgen anrufen, oder war es dann schon zu spät?

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