Christine Rechl Logo

Kurzgeschichte Nr. 03

Die Besichtigung

„Die Wand könnte man entfernen, dann hätte man einen offenen Wohn-Essbereich. Hier,” die Maklerin zeigte auf das Küchenbuffet, „könnte ich mir gut einen Küchenblock vorstellen. Mit diesen neuen Dunstabzugshauben, die die Luft nach unten wegsaugen.”

Die Küche war noch voll eingerichtet, alles andere hatte Lena schon leergeräumt.

„Ist das eine tragende Wand?”, fragte Sonja. Die Interessenten hatten sich nur mit Vornamen vorgestellt, sie und Ben waren sicher nicht älter als dreißig.

„Der Architekt meinte, das sei kein Problem, wenn man einen Betonsturz einzieht.” Die Maklerin lächelte. „Die Wohnung hat so viel Potenzial. Ich sehe Sie beide schon bei der Einweihungsparty.”

Lena strich mit der Hand über das Küchenbuffet. Dort hatte der Brotkasten gestanden, dort hatte ihre Mutter ihr morgens das Pausenbrot geschmiert, während sie Brotstücke in Kakao tunkte. Ihr Zimmer war das kleinste, aber sie hatte es geliebt. Von der Küche aus sah man auf den Ahorn, in dem immer ein Taubenpärchen wohnte. Auch heute war ihr U-u-hu zu hören, vermutlich die zehnte Generation, seit ihre Eltern die Wohnung gekauft hatten. Tauben waren monogam, soweit Lena wusste. Wie alt sie wurden, würde sie später nachschlagen. Der Baum war weiß vom Mehltau, wie jedes Jahr im Herbst. Ihre Mutter hatte nach dem Tod des Vaters nicht mehr geheiratet, die letzten Jahre hatte sie alleine in der Wohnung gelebt.

„Wenn Sie hier durchbrechen, haben Sie eine Küche mit Balkon, das ist perfekt, wenn Gäste kommen.”

„Ja, vor allem für die Raucher,” sagte Ben, der etwas verloren herumstand. „Aber es raucht ja fast niemand mehr”.

Sicher hatte er noch nie so viel Geld in die Hand genommen. Ob die Eltern beim Kauf mithalfen? Oder verdienten sie so viel, dass Geld kein Thema war?

Sonjas Absätze klapperten über das Stäbchenparkett.

„Sieht ganz schön mitgenommen aus, was meinst du Ben?”

„Was denken Sie, lohnt es sich, das zu renovieren?”, fragte er die Maklerin.

„Das müsste man alles rausreißen. Wenn Sie das abschleifen, bleibt nicht mehr viel übrig. Außerdem – wenn die ganze Wohnung den gleichen Boden hat, wirkt sie nochmal größer. Das ist ja noch weit weg, Sie sind ja noch so jung, aber es erhöht den Wiederverkaufswert, wenn sie rollstuhlgerecht ist.”

Lena dachte an ihre Oma, wie sie schnaufend die Treppe hochgekommen war, um auf sie und ihre kleine Schwester aufzupassen, wenn die Eltern arbeiten mussten. Sie brachte stets vier Semmeln zum Frühstück mit, die sie mit Butter und Honig bestrich. Den Honig strich sie so lange hin und her, bis er sich mit der Butter vermischte. Dann kochte sie sich einen Kaffee, setzte sich mit an den Küchentisch und schaute ihnen zu, wie sie noch im Schlafanzug die Semmeln aßen. Nie hatte Lena bessere Honigsemmeln gegessen als die von ihrer Oma. Danach gingen sie zum Spielen in den Hof. Heute standen dort riesige Mülltonnen und ein Schild mit der Aufschrift Spielen verboten, was egal war, denn es wohnten sowieso keine Kinder mehr im Haus, und wie es aussah, würden auch keine neuen einziehen.

Im Schlafzimmer konnte man an dem dunklen Rechteck im Teppichboden erkennen, wo das Bett ihrer Eltern gestanden hatte. Ihre Mutter hatte in der linken Hälfte geschlafen, die rechte war im Lauf der Jahre zur Wäscheablage geworden. Als Kind hatte Lena sich oft zwischen die Eltern gedrängt, wenn ein Albtraum sie geweckt oder sie Angst vor der Dunkelheit gehabt hatte. Ihr Vater hatte leise geschnarcht und sie meist nicht bemerkt, ihre Mutter ließ sie unter ihre Decke schlüpfen. Aber nur heute, bist ja schon groß. Unter dieser Decke war sie vor drei Monaten gestorben. Lena hatte sich Sorgen gemacht, weil sie nicht ans Telefon ging. Als sie die Tür aufsperrte, wusste sie sofort, dass etwas nicht stimmte.

„Ich würde ja das andere Zimmer als Schlafzimmer nehmen, dann können Sie hier das Homeoffice einrichten. Das Kinderzimmer ist ein bisschen kleiner, das wird sicher ein kuscheliges Nest.”

„War das das Elternschlafzimmer?”, fragte Sonja und wandte sich an Lena.

„Ja, und das andere war unser Kinderzimmer.”

„Zu zweit?”

Sie machte ein Gesicht, als ob Lena einen Hautausschlag hätte.

„War bisschen eng, aber meistens waren wir sowieso nicht in unserem Zimmer, nur zum Schlafen.”

„Ist ja süß. Gute Idee, das zum Schlafzimmer zu machen, oder Ben?”

„Ja, Schatz.”

Sonja trat auf den Balkon.

„Schöner Baum, aber er sieht krank aus.”

„Das ist nur Mehltau, bis jetzt hat es ihm nicht geschadet.”

„Wenn er wegmüsste, dann würde man die nervigen Tauben nicht mehr hören. Ich bin sehr geräuschempfindlich. Ist das Haus hellhörig?”

Lena dachte an die vielen Streitereien, die sie von dem Paar in der oberen Wohnung gehört hatten. Später hatte eine alleinstehende Frau oben gewohnt, mit der sich ihre Mutter gut verstanden hatte. Deswegen hatte sie sich auch nie über den lauten Fernseher beschwert, sondern sie lieber zu sich zum Fernsehen eingeladen.

„Nein, das ist gar kein Problem. Also ich habe noch nie etwas aus den anderen Wohnungen gehört, wenn ich hier war,” antwortete die Maklerin.

„Hatten Sie schon viele Besichtigungen?”, fragte Ben.

„Nein, wir haben die Wohnung ja erst diese Woche in unser Portfolio aufgenommen. Jetzt haben Sie alles gesehen, die nächsten Interessenten stehen schon unten. Haben Sie noch Fragen?”

„Der Preis. Lässt sich da noch was machen?”

„Nein, sicher nicht. Die Wohnung wird in einer Woche weg sein, das garantiere ich Ihnen. Wenn Sie Interesse haben, müssen Sie es sich schnell überlegen.”

Lena stand am Balkon und sah auf die wartenden Interessenten hinunter. Ein Vater mit seiner Tochter, oder war es seine Frau? Als sie zu ihr hochblickten wandte sie sich ab. Nicht noch eine Besichtigung. Bitte nicht. Die Maklerin wollte sowieso lieber alleine durch die Wohnung gehen. Besser fürs Geschäft, meinte sie. Eigentümer seien eher hinderlich beim Verkauf. Zu emotional. Heute war Lena nur zufällig da gewesen, weil sie einem jungen Schreiner die alte Küche gezeigt hatte. Eine der ersten Poggenpohl, zu schade zum Wegwerfen. Er würde sie abbauen, restaurieren und in seine neue Wohnung einbauen.

„Ich lass Sie dann alleine, ich habe noch einen Termin.”

Lena drückte dem Pärchen die Hand und nickte der Maklerin zu. Durch den Hinterausgang verließ sie das Haus.

„U-u-hu. Tu-hus-nicht. U-u-hu. Tu-hus-nicht.”

Als sie um die nächste Ecke bog, verstummten die Tauben. Sie ging zur Brotmanufaktur um zwei Brezen zu kaufen. Dort war auch schon in ihrer Kindheit ein Bäcker gewesen. Der Sohn hatte den Laden übernommen, mit ihm hatte sie im Sandkasten gespielt. Im Fenster entdeckte sie einen Zettel: Suche dringend Wohnung in der Nähe.

Beitrag teilen

Übersicht