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Kurzgeschichte Nr. 04

Gerechtigkeit

Der Raum war symmetrisch angelegt. Der Richtertisch ragte zwischen den verspiegelten Fenstern empor, links und rechts führten jeweils fünf Stufen hinauf. Die Richterin hatte als letzte den Raum betreten. Sie nahm in der Mitte Platz. Bei den zwei Gerichts­schreiberinnen handelte es sich – wie bei den Beisitzerinnen am Richtertisch – um eine männliche und eine weibliche Person, deren Protokoll nach der Verhandlung mittels künstlicher Intelligenz abgeglichen werden würde.

Der Angeklagte saß neben seinem Anwalt an einem Tisch in der Mitte des Raums, am Tisch daneben die Klägerin, der Mitkläger und ihr Anwalt. Zuschauerinnen waren zum Prozess nicht zugelassen, denn das Gericht hatte sich in den letzten Monaten zu einer Art Kultstätte entwickelt. Die einzige Möglichkeit, diesen Gerechtigkeitstourismus zu beenden, hatte man darin gesehen, die Öffentlichkeit auszuschließen und auch von Liveübertragungen abzusehen. Gerade letztere hatten zu massiven Ausschreitungen geführt, die nur noch die berittene Polizei in den Griff bekommen hatte. Vor Pferden hatte man Respekt. 

Die Richterin grüßte mit einem Nicken die beiden Anwälte, dann richtete sie das Wort an den Angeklagten. „Herr Hyum Jin, bitte erheben Sie sich. Ich werde nun die Anklageschrift verlesen.”

Hyun Jins Hände zitterten. Es stand viel auf dem Spiel für ihn – eigentlich alles.

„Anwesender Angeklagter. Sind Sie Hyun Jin, geborene Laura Schmidt, geboren am 19. April 2016 in Berlin? Antworten Sie bitte mit ja oder nein.”

„Ja.”

Sie sind angeklagt, am 14. Juli 2039 Frau Melissa Freudenberg, geborene Lorenz, und ihren Begleiter, Knut Karo, geborener Bock, den Eintritt in den Club Pink Elephant aus rassistischen Gründen verwehrt zu haben. Bekennen Sie sich schuldig?”

„Nein.”

„Setzen Sie sich bitte.” Die Richterin trank einen Schluck Wasser. „Als erstes bitten wir die Klägerin, Melissa Freudenberg in den Zeugenstand.”

Ihr Anwalt nickte Melissa ermunternd zu, als sie nach vorne trat. Sie hasste es, vor vielen Menschen zu sprechen, und war froh, dass keine Schaulustigen im Saal waren. Sie machte das hier nur für Knut, er und nachfolgende Generationen sollten es einmal besser haben.

Die Richterin blätterte in dem Papierstapel vor sich, nahm ihn hoch, klopfte seine Seiten auf dem Tisch glatt, legte ihn wieder ab und richtete den Blick auf Melissa. „Frau Freudenberg. Können Sie uns bitte schildern, was am Abend des 14. Juli vorgefallen ist?”

Melissa strich eine Haarsträhne hinters Ohr, fasste an den Anhänger ihrer Halskette, beugte sich kurz zum Mikrofon, richtete sich gerade auf und begann zu sprechen.

„An dem Abend wollte ich mit meinem Begleiter Knut in den Pink Elephant, aber der Angeklagte verweigerte uns den Zutritt. Er meinte, ich allein könne gerne hinein, aber Knut müsse draußen bleiben. Daraufhin warf ich ihm Rassismus vor. Er entgegnete, er könne kaum Rassist sein, denn er wäre ursprünglich eine weiße Frau gewesen, und ich sähe ja wohl selbst, dass er das heute nicht mehr sei. Darauf erwiderte ich, dass mich seine Vergangenheit nicht interessiere. Immerhin sei er heute ein Mann und würde noch dazu als Türsteher arbeiten. Daraufhin meinte er, das täte er im Dienste der Gesellschaft, um Räume wie diesen Club zu schützen. Knut sei alt, männlich und weiß. Er habe hier nichts verloren. Ich fragte ihn noch, woher er wissen wolle, dass ich nicht auch eine unerwünschte Person sei. Die Annahme, dass ich aufgrund meines Geschlechts und Hautfarbe ein willkommener Gast sei, wäre absurd und rassistisch, fügte ich hinzu.

Die Richterin hob die Hand. „Darf ich Sie an dieser Stelle unterbrechen? Ich würde gerne wissen, warum Sie unbedingt in diesen Club wollten. Es gibt genug Lokale ohne Türsteher.”

„Ich mag den Namen und außerdem haben Sie die besten Cocktails der Stadt. Früher gab es dort keine Türsteher. Jede konnte kommen und gehen, wie sie wollte.“

Die Richterin notierte etwas auf ihrem Block. „Ihnen ist bewusst, dass es sich beim Pink Elephant um ein privatwirtschaftliches Unternehmen handelt? Es kann selbst entscheiden, wen es reinlässt und wen nicht.”

Melissa begann zu schwitzen. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie mühelos den Sieg erringen würde, nun fühlte sie sich in die Ecke gedrängt. Die Richterin hatte natürlich recht – warum war sie so verbohrt gewesen, dass sie unbedingt in diesen Club gehen wollte? Knut war es sowieso egal gewesen, eigentlich wäre er am betreffenden Abend lieber im Park geblieben, wo es so verführerisch nach Gras gerochen hatte. Aber sie wollte lieber einen Cocktail trinken gehen. Sie konnte schlecht zugeben, dass sie den Club hauptsächlich wegen der kleinen Gummitiere, die man dort in die Cocktails warf, liebte. Sie hatte schon eine beachtliche Sammlung davon, aber seit Knut in ihr Leben getreten war, wuchs diese nur noch langsam. Er ging nicht so gerne aus. Die meisten Menschen, die sie in Bars kennenlernten, waren von ihm irritiert. Nach ein paar Höflichkeitsfloskeln, bei denen die Gesprächspartnerinnen kaum ihre Überraschung über seine gepflegte Ausdrucksweise verbergen konnten, gerieten die Unterhaltungen meist schnell ins Stocken.

„Frau Freudenberg. Könnten Sie bitte fortfahren? Was genau hat Sie zu der Anzeige bewogen?”

„Der Angeklagte hat folgendes zu mir gesagt: Zick hier nicht rum. Dein alter Bock darf hier nicht rein. Verzieh dich. Das ist beleidigend und rassistisch.”

Der Türsteher setzte zu einer Antwort an, die Richterin klopfte auf das Pult. „Ruhe. Wollen wir doch einmal den Geschädigten selbst zu Wort kommen lassen. Sie können sich wieder setzen Frau Freudenberg.”

Melissa ging zurück zu ihrem Platz, der Anwalt vermied es, sie anzusehen. War das gut gelaufen, oder hatte sie sich um Kopf und Kragen geredet? Sie wünschte, sie hätte nie Anzeige erstattet, dann müsste sie das alles nicht über sich ergehen lassen. Aber sie wollte Gerechtigkeit für Knut. Er hatte niemandem etwas getan und verdiente genauso viel Respekt wie jede andere. Er selbst scheute jede Konfrontation – das war genau das, was die immer Gleichen auf jeder Suppe oben schwimmen ließ.

„Du schaffst das”, flüsterte sie Knut ins Ohr und kraulte ihn zwischen den Hörnern. Dann trippelte er nach vorne und stellte sich in den Zeugenstand.

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