Kurzgeschichte Nr. 05

Violetta

Früher hätte sie sich einen Besuch im Café Florian nicht leisten können, ebenso wenig wie die pinkfarbene Handtasche aus Krokodilleder, die sie achtlos neben sich gestellt hatte. Fendi war etwas für Superreiche gewesen, aber auch das war Vergangenheit. Die Tasche hatte nur noch musealen Wert. Es gab keine Krokodile mehr, seit sich Süßwasser und Salzwasser in den Flussmündungen vereint hatten. Venedig hatte nur dank der hohen Metallmauer überlebt, über die man schon vor 100 Jahren nachgedacht und sie gerade noch rechtzeitig fertiggestellt hatte, bevor die Stadt komplett versunken wäre, wie so viele andere Metropolen Europas. London, Hamburg, Stockholm – wo früher Touristen im Doppeldeckerbus durch die Stadt gefahren wurden, saßen sie nun im U-Boot und blickten aus Bullaugen auf Old Europe. Einfallsreich waren sie gewesen, die Europäer, viele gute Ideen kamen von dort. Ein Funken davon sollte weiterleben, das konnte noch einmal von Nutzen sein. Ganz anders als der Individualismus, den man dort betrieben hatte, der war Geschichte. Mit dem Aussterben der Fischschwärme wurde die Schwarmintelligenz der Chinesen zum einzig überlebensfähigen Gesellschaftsmodell.

Der Kellner brachte ihr einen Cappuccino. Um in Venedig arbeiten zu dürfen hatte er sicherlich nur Einsen in seinen Zeugnissen gehabt und einen einwandfreien Lebenslauf. Dreißig Prozent der Tische waren mit Ancients besetzt, deren einzige Aufgabe es war, authentisch zu wirken.

Ihre Großmutter würde ihr Enkelkind nie kennenlernen. Sie arbeitete am Fischmarkt und wohnte in einem der Palazzi, die man den Alten überlassen hatte. Sie hatten die Insel nicht verlassen dürfen, sie gehörten zum Stadtbild.

Violetta würde ihr Kind nur drei Monate behalten dürfen. Solange, hatte man herausgefunden, war es gut die Babys zu stillen. Das sparte später einiges an Medikamenten. Noch sah man ihren Bauch kaum. Doch bereits nächste Woche, zu Beginn des vierten Monats würde man sie bis zum Geburtstermin nach iBorn bringen. Sie würde ihre Großmutter nie wiedersehen, denn deren Zeit war bald abgelaufen. Noch zwei Monate, dann würde man die Großmutter zur Mauer bringen. Eine Schleuse würde sich öffnen und das Meer sie aufnehmen.

Doch Violetta hatte einen Plan.

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