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Kurzgeschichte Nr. 09

Am Gipfel

„Hier oben ist die Welt noch in Ordnung.” Hannes breitete beide Arme aus, als wolle er das Tal umarmen. Neben ihm saß Gabriele und nickte.

Gabriele hasste die Berge. Bis zum heutigen Tag hatte sie es geschafft, Hannes Wunsch nach einer gemeinsamen Bergtour allerlei Ausreden und Argumente entgegenzusetzen. Migräne, Blasen an den Füßen, volle Straßen, Einladungen bei Freunden.

„Magst du noch ein Brot?” Gabriele hatte Brote geschmiert, auf die Salami eine Spur Senf gegeben und hauchdünne Scheiben Essiggurke darauf gelegt. „Endlich hat es geklappt”, sagte sie und nahm auch ein Sandwich. „Kaum zu glauben, dass ich das ganze letzte Jahr keine Zeit für die Berge hatte.” Sie knabberte an ihrem Brot wie ein Kaninchen an einer Möhre. Hannes verschlang seines mit drei Bissen. Gabriele verbot sich jeden Kommentar bezüglich Kauen, gesund, Genuss. Stattdessen reichte sie Hannes einen Apfel. „Nachtisch?” fragte sie und legte den Kopf schräg. „Dabei liebe ich die Berge.”

Hannes nahm Gabrieles Hand und drückte sie. Viele Worte zu machen war nicht seine Art. Er liebte die Stille.

„Ob Nina noch oft in die Berge geht?” Gabriele stieß mit dem Fuß einen Kiesel den Hang hinab. „Ich habe es ja schon immer geahnt, dass man sich nicht auf sie verlassen kann. Ihre ganze Familie ist so.”

„Wie denn?” fragte Hannes und ließ Gabrieles Hand los.

„Egoistisch. Eingebildet. Geld verdirbt eben doch den Charakter.”

Hannes dachte an sein Haus, seinen Swimmingpool, den Gärtner, die Putzfrau. An Gabriele, wie sie im Liegestuhl lag und Reiseprospekte las. Wenn Gabriele wüsste, dass er in seinem Nachtkästchen einen Brief von Nina aufbewahrte, der mit „mein Liebster” begann, wäre sie nicht begeistert. Vor allem, weil der Brief erst zwei Wochen alt war.

„Ich freue mich schon auf Ägypten,” sagte Gabriele. „Auf die Pyramiden, Nofretete, Krokodile, den Nil.” Sie hatte eine Kreuzfahrt dorthin ausgesucht, mit Balkonkabine und Drei-Gänge-Menü. Kein All-You-Can-Eat. Hannes war als Buffetkiller bekannt, sie wollte sich nicht für ihn schämen, wenn er seinen Teller maximal vollhäufte. Ein bisschen Bedenken hatte sie wegen der Terrorgefahr gehabt, aber die freundliche Mitarbeiterin im Reisebüro hatte Gabriele beruhigt. „Die Medien berichten nur, wenn etwas passiert. Auf der Starnberger Autobahn zu fahren ist wesentlich gefährlicher als nach Ägypten zu reisen – bei der Porsche-Dichte.”

Gabriele hatte lächelnd zugestimmt und an den Neunhundertelfer gedacht, den sie letzte Woche bestellt hatte. In Metallic-Schwarz.

Gabriele packte die leere Brotzeitdose ein und schraubte die Wasserflasche zu.

Das metallische Quietschen riss Hannes aus seinen Gedanken. Ägypten. Nichts auf dieser Welt würde ihn dorthin bringen. Vor allem kein Kreuzfahrtschiff. Verbieten sollte man diese Ungetüme, genauso wie die E-Bikes in den Bergen.

„Wenn die Ägypter Berge gehabt hätten, hätten sie keine Pyramiden bauen müssen”, sagte er.

„Aber Berge sind keine Grabkammern”, sagte Gabriele. „Sie haben die Pyramiden ja nicht zum Klettern gebaut.”

„Mit Bergbahnen hat alles angefangen. Und jetzt kraxeln die Touristen wie Blattläuse hier herum. Eine Pest ist das.”

„Gut, dass wir nicht am Wochenende hierhergefahren sind. Bis jetzt sind wir noch niemandem begegnet.”

„Kaum zu glauben, ja.” Hannes legte den Rucksack um. Er deutete zum Himmel, wo ein Geier seine Kreise zog. „Ein Bartgeier. Bis zu drei Meter Spannweite. Er beobachtet uns.”

Gabriele lachte. „Das ist dem doch egal, ob wir hier oben sind oder nicht. Vielleicht liegt da hinten eine tote Gämse.”

„Noch eine halbe Stunde, dann sind wir oben. Geh du voraus.”

Hannes, Nina und Gabriele. Sie kannten sich seit der Schule. Niemals hatte Gabriele eine Chance gegen ihre beste Freundin gehabt. Nie hatte sie zugegeben, dass auch sie in Hannes verliebt gewesen war. Allen erschien es ganz natürlich, dass sie Ninas Trauzeugin wurde, als die beiden nach dem Studium heirateten. Das Paar verbrachte jeden Urlaub in den Bergen, schlief in einfachen Hütten, brauchte nichts als sich selbst. Vor allem nicht Gabriele als fünftes Rad am Wagen. Gabriele hatte sich in mehrere glücklose Affären gestürzt – nie, ohne dabei an Hannes zu denken.

Als es zwischen Nina und Hannes kriselte, war sie für die beiden da. Ständig hatte Nina ihrer Freundin in den Ohren gelegen, wie abgekühlt die Ehe mit Hannes geworden sei. Fleißig hatte Gabriele zugestimmt.

„Das merkt man auch von außen. Die Kälte zwischen euch ist nahezu greifbar”, hatte sie gesagt, nach der gekühlten Flasche Chardonnay gegriffen und Nina nachgeschenkt.

Und wie sie in ihrem Job als Finanzberaterin mit Zahlen jonglierte, hatte sie mit der Wahrheit jongliert. Ein paar Andeutungen hier, ein aus Versehen ausgesprochener Name da. Sie war selbst überrascht, wie schnell sie Nina davon überzeugen konnte, dass Hannes sie betrog.

„Kongress? Warum nimmt er dich nicht mit? Hast du dich das niemals gefragt?”

Und dann hatte Gabriele es geschickt eingefädelt, dass Nina Jörg begegnete und in seinen Armen fand, was sie bei Hannes vermisste. Nina wurde schuldig geschieden.

Nie wieder würde sie freiwillig hier hoch gehen, dachte Gabriele, während sie auf die schroffen Felsen blickte, die vor ihnen aufragten. Einmal mehr fragte sie sich, warum Nina und Hannes keine Kinder bekommen hatten. Zum Glück, wie sie dachte, das würde alles verkomplizieren.

„Gleich haben wir es geschafft”, sagte Hannes und deutete nach oben zum Gipfelkreuz.

Vielleicht hatte sie Nina einen Gefallen getan, denn Hannes war nicht immer einfach. Sie hatten in letzter Zeit oft gestritten. Überhaupt war Hannes attraktiver gewesen, als er Nina gehört hatte. Sie war einer Fata Morgana hinterhergelaufen, dachte Gabriele. Hatte das Haus und den Pool gesehen, aber nicht Hannes Launen. Hannes hatte gedroht, nicht nach Ägypten zu fahren, wenn sie nicht mit auf den Berg käme, also hatte sie eingewilligt. Bei jeder Kreuzfahrt geht einer über Bord, hatte sie in einem Zeitungsartikel gelesen.

Hoffentlich schnarchte Hannes in der Kabine nicht wie ein Flusspferd. Dann würde es ihr schwer fallen, bis nach Luxor zu warten, wo die Polizei sicherlich genauso träge wie eine Katze in der Sonne war. Es würde schon alles gut gehen.

Schweigend gingen sie den Rest des Weges. Eigentlich ging Hannes am liebsten allein in die Berge, aber es hatte sich als gutes Druckmittel erwiesen, Gabriele zum Mitkommen zu zwingen. Außenkabine mit Balkon. Hoffentlich zahlte die Reiseversicherung. Die Reise hatte sicher ein Vermögen gekostet. Einmal mehr bereute er, keinen Ehevertrag gemacht zu haben.

Oben angekommen legten sie ihre Rucksäcke am Gipfelkreuz ab. Vor ihnen reihten sich teils mit Schnee bedeckte Gipfel aneinander, im Tal glitzerte ein blauer See.

„Die Aussicht ist wirklich wunderschön, die Strapazen haben sich gelohnt”, sagte Gabriele und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Jetzt müssen wir nur noch heil wieder runterkommen.”

„Aber erst haben wir uns eine Pause verdient. Du siehst sehr glücklich aus. Lass uns ein Selfie machen, das können wir anschauen, wenn wir alt und grau zusammen auf dem Sofa sitzen.”

Gabriele lehnte sich an ihn und drückte den Auslöser.

„Noch eins, mit dem See im Hintergrund”, sagte Hannes und ging zum Überhang. Dohlen ließen sich von dort in die Tiefe fallen und kreisten über dem Tal. Hannes legte den Arm um Gabriele, aus Fürsorge, wie sie dachte. Er zog sie einen Schritt nach hinten, unter ihren Schuhen löste sich ein Stein.

„Pass doch auf!”, rief sie, als Hannes sie weiter nach hinten zog. Dann verlor sie den Halt. Das Handy hielt sie fest umklammert. Niemals würde sie die Grabkammern Ägyptens sehen, dachte sie, während sie fiel.

„Sie wollte unbedingt noch ein Selfie machen, ich habe sie gewarnt. Konnte mich gerade noch retten.” Hannes war blass. Er zitterte. Jemand legte ihm eine Wolldecke um die Schultern.

Nach nicht einmal einer halben Stunde war die Bergwacht mit dem Hubschrauber gekommen, trotzdem kam für Gabriele jede Hilfe zu spät. Das Handy hatte nur einen Kratzer abbekommen, das Panzerglas hatte gehalten, ganz im Gegensatz zu Gabrieles Schädel. Auf dem letzten Foto sah man sie beide glücklich in die Kamera lächeln. Was für ein tragischer Unfall.

Gelesen am 16.05.2024 auf der Criminale in Hannover „Das Böse in den Alpen“

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