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Kurzgeschichte Nr. 08

Winterkatze

In ihren Armen hielt sie den Sommer. Leinentunikas und -hosen von Schlammfarben bis Meergrün hatte sie heute Morgen aus dem Schlafzimmerschrank geholt, um Platz für zimtfarbene Wollpullover und kaffeebraune Hosen zu schaffen. Es hatte ein paar Jahre gedauert, bis sie ihren Mann von ihrem Arrangement überzeugen konnte, doch für sie war es die einzig mögliche Art des Zusammenlebens. Dieses Jahr hatte er angefangen, Fragen zu stellen, die sie nicht beantwortet hatte.

„Du liebst Mimi doch nicht weniger, nur weil du nicht weißt, wo sie sich im Sommer herumtreibt?”, hatte sie auf sein Drängen erwidert. „Mit der Kälte kommt sie zurück, wie ich.”

Es war nicht so, dass sie ihn betrog, aber im Sommer war sie eine andere. Sie reiste stets allein, so konnte sie sich mühelos neuen Umgebungen anpassen. Ihre Erlebnisse zu erzählen, hätte die Bilder zerstört, von denen sie im Winter zehrte. Wie einen Kokon bewahrte sie die Eindrücke in ihrem Inneren, und entrollte den Faden Wort für Wort. Wenn er erfahren wollte, was sie erlebt hatte, musste er auf das fertige Manuskript warten. Immerhin hatte sie es sich abringen lassen, wenigstens einmal pro Woche ein Lebenszeichen von sich zu geben und eine Adresse im Speicherschrank zu hinterlegen. Auch ihre Notizbücher bewahrte sie dort auf.

Sie stapelte die Sommergarderobe auf die kalten Holzbretter, schloss die Tür und zog den Schlüssel ab.

Im letzten Winter, als Mimi mehr zugenommen hatte als gewöhnlich, hatte er die Nachbarn verdächtigt, dass sie die Katze füttern würden. Sieben Nächte hatte er sie eingesperrt, doch Mimi war Freigängerin. Als sie nachts tiefe Rillen in die Haustüre gekratzt hatte und angefangen zu beißen, gab er auf.

Die Speichertreppe knarzte unter ihren Schritten, im Schlafzimmer legte sie den Schlüssel zurück in die Schmuckschatulle. Die obere Etage war mit dickem Teppichboden ausgelegt, der jedes Geräusch verschluckte. Als er seine Arme um sie legte, erschrak sie. „Du verbirgst etwas vor mir.” Sein Griff war nicht zärtlich. „So geht das nicht weiter.”

Sie wand sich aus seinen Armen und hielt seinem Blick stand. Seine Augen suchten nach einer Lüge in ihrem Gesicht. Die Tür ihres Kleiderschranks stand noch offen. Er strich mit den Fingern über weiche Merinowolle und flauschigen Mohair. „Ich kenne dich nur unter einer dicken Schicht Wolle. Ich würde gerne wissen, was darunter steckt.”

Sie lachte. „Wie bei Mimi, als sie in die Regentonne gefallen ist? Damals hast du endlich geglaubt, dass es nur Fell ist.”

„Der Sommer ist zu lang. Ich vermisse dich jedes Mal mehr. Ich hätte gerne mehr Zeit mit dir. Das Leben ist endlich.”

„Hast du ein Geheimnis vor mir? Bist du krank?”

Er zögerte einen kurzen Moment, lang genug, um sich ihn in einem Klinikbett, umgeben von Apparaten und Schläuchen vorzustellen.

„Muss ich todkrank werden, damit du nicht mehr vor mir davonläufst?”

Weiches Fell strich an ihren Beinen vorbei. Mimi schnurrte, hüpfte aufs Bett und rollte sich zusammen. Er hielt sie immer noch fest. Seine Brust roch nach Muskat und Orangen. „Mimi ist auch ruhiger geworden. Sie hat oft zuhause geschlafen, als du fort warst.”

„Wie lange sie wohl noch lebt? Katzen können alt werden, wenn sie nicht überfahren werden.”

„Schreib doch über Mimi. Du kennst nur die Winterkatze. Aber es gibt auch eine Sommerkatze.”

Sie kraulte Mimi unter dem Kinn. Genüsslich hob die Katze den Kopf. „Sommerkatze”, wiederholte sie. „Vielleicht hast du recht.”

Zwei Jahre später fragte eine Zuhörerin in der Lesung, ob sie für den nächsten Roman wieder reisen würde.

„Vielleicht arbeite ich in einer Eisdiele an der Ostsee. Oder ich fahre nach Island. Ich habe noch keine Pläne. Vielleicht bleibe ich zuhause und schreibe den zweiten Band, Winterkatze.” Sie lächelte ihrem Mann zu. Er saß in der ersten Reihe. Das Leinensakko passte gut zu seinen grauen Haaren. Ein schöner Mann, ein guter Zuhörer. Wenn sie den Job in der Eisdiele annehmen würde, könnte er dort segeln. Abends würden sie am Meer zusammen essen gehen. Nach Island würde sie allein reisen. Es gab so viel Möglichkeiten.

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