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Kurzgeschichte Nr. 7

Schönen Sonntag

Noch länger hätte er nicht warten können, der Druck war kaum mehr auszuhalten gewesen. Er hatte seinen Kleiderschrank aufgeräumt, das Besteck neu sortiert, die Altkleider zur Kirche gebracht und seine Mutter im Altenheim besucht. Stundenlang hatte sie ihm wieder erzählt, wie schön früher alles war. Dass sie nie gedacht hätte, einmal im Altenheim zu landen, wo sie doch einen Sohn hatte.

„Du weißt, dass das nicht geht. Wegen der Arbeit.”

„Deine Schwester hätte mich zu sich genommen.”

Die Falten um ihren Mund wurden ein klein wenig tiefer, sie spitzte die Lippen. Gleich würde noch eine Bemerkung kommen. Wie er das Schmatzen hasste, wenn sie zu reden begann. War ihre Zunge am Gaumen festgeklebt und musste erst gelöst werden? Oder wollte sie ihren Worten Nachdruck verleihen? Machte Schmatzen sie wichtiger?

Er zündete sich eine Zigarette an und griff zu seinem Handy.

„Hallo, ach du bist’s. Ja, kann ich machen. Ja, ich beeil mich. Muss nur noch meine Mutter zurückbringen. Wir sind gerade am Hochufer.”

Seine Mutter fuhr mit den Fingern die Karos auf der Wolldecke nach.

„Musst du schon wieder gehen? Du bist doch gerade erst gekommen?”

„Ja, leider, es ist etwas dazwischen gekommen.”

Flott schob er sie zum Altenheim zurück. Vor dem Eingang saßen andere Insassen in ihren Rollstühlen in der Sonne.

„Ah, der Herr Sohn ist heute da, dir geht’s aber gut!”

Seine Mutter beachtete die anderen nicht. Sie war immer noch mit dem Karo der Wolldecke beschäftigt.

Als sie den Linoleumboden des Eingangsbereichs erreicht hatten, ließ er sie stehen.

„Den Rest schaffst du alleine, gell? Schönen Sonntag noch.”

In nur zehn Minuten war er zurück in seiner Straße, heute war wenig Verkehr. Die 60er spielten heute nicht und bei dem schönen Wetter waren die meisten ins Grüne gefahren. Sicher aßen sie perfekte bayerische Schmankerl mit ihren perfekten Kindern an einem perfekten Ort. Straßlach oder Waldwirtschaft. Danach dann rechtzeitig heim zur Tagesschau und zum Tatort. Auch die Familienidylle gegenüber war wie immer perfekt. Der Vater stand am Kugelgrill, die beiden Kinder hüpften Trampolin, die Mutter stellte Schüsseln auf den Tisch – sicher waren da Salate drin. Er machte sich ein Bier auf und ging in den Keller. Jetzt oder nie.

Den Rucksack hatte er schon lange vorbereitet. Eines der wenigen Erbstücke seiner Schwester. Grün, wie alle Rucksäcke vom Alpenverein. Sie war gerne in die Berge gegangen. Jeder mochte sie, es gibt so Typen. Dafür konnte sie ja nichts. Er hatte sie auch gemocht. Nun lebte er allein in dem Haus in Neuharlaching, in dem sie zusammen aufgewachsen waren. Damals, als alles so schön gewesen war. Sie war gerne draußen. Beim Klettern, im Biergarten. Sie hatte viele Freunde, manchmal nahm sie ihn mit. Damit du auch mal rauskommst. Sie war echt nett, jetzt war sie tot. Schon lange. Seitdem hatte die Mutter nie mehr gelacht. Der Vater war auch schon tot, auch nicht gerade fröhlich gestorben. Aber immerhin hat er ihn manchmal ins Stadion mitgenommen, auch wenn sie nicht oft gewonnen haben. Er strich die Träger glatt, schaute nochmal, ob auch alles an seinem Platz war und legte den Rucksack an.

„Hallo Karl, gehst zum Wandern?”

„Fast. Nur ein bisschen in den Park. Hab’ eine Brotzeit dabei und ein Bier. Man gönnt sich ja sonst nichts.”

Er tätschelte seinen Rucksack und schaute dem Nachbarn fest in die Augen.

„Ja dann, viel Spaß!”

„Und euch einen guten Appetit, sieht lecker aus, wie immer!”

Er ging um das Nachbarhaus herum und nutzte den Hintereingang zum Garten. Dort standen die Mülltonnen schön nah am Haus, darüber der hölzerne Balkon, den sie vor ein paar Jahren angebaut hatten. Damit wir im Sommer draußen in der Sonne frühstücken können, hatten sie damals gesagt. Das wird in nächster Zeit nichts mit dem Frühstück. Das Benzin gluckerte leise, als er es über die offene Papiertonne goss. Selber schuld, wenn ihr so dicke Zeitungen lesen müsst. Die brennen besonders gut. Sicherheitshalber verteilte er noch um die Tonnen herum Benzin und beträufelte die Stützen des Balkons damit. Die meisten Brandbeschleuniger hatte er zwischen die alten Zeitungen gelegt, einen platzierte er beim Balkon. Er liebte das leise Klirren seines Benzinfeuerzeugs. Die Flamme konnte man so richtig groß machen, sodass es ein leichtes war, das Papier zu entfachen. Als er zum Park ging, hörte er ein angenehmes Knistern hinter sich. Der Wind stand richtig, die Thuja war vom Sommer vertrocknet und stand nah genug am Haus, um als zusätzlicher Brandbeschleuniger zu funktionieren. Das Feuer würde seinen Weg von alleine finden.

Der erste Schluck Bier rann kühl und bitter seine Kehle hinunter. Er hatte tatsächlich eine Brotzeit dabei, er hatte also nicht gelogen. Diesmal nicht. Er dachte an seine Mutter. Immer fiel sie auf den Trick mit dem Handy rein. Wer hätte ihn schon anrufen sollen. Als er Sirenen hörte, schaute er auf die Uhr. 20 Minuten waren vergangen, seit er das Feuer gelegt hatte. Die Sirenen kamen näher, die Richtung stimmte. Er schloss die Augen und ließ sich die Sonne aufs Gesicht scheinen. Wie friedlich sich das anfühlte. Wie warm und mütterlich, obwohl sie so weit weg war. Er dachte an die Beerdigung seiner Schwester. Warum sie, hatte seine Mutter damals gesagt. Warum ich, dachte er oft. Warum bin ich übrig und muss mich um dich kümmern? Bis zu seinem zweiundfünfzigsten Lebensjahr hatten sie zusammen im Haus gewohnt, sie hatte ja sonst niemanden. Keine seiner wenigen Freundinnen hatte das lange ausgehalten. Sie oder ich. Als sie die Treppe nicht mehr steigen konnte, kam sie in ein Heim. In der Nähe. Damit er sie täglich besuchen konnte.

Langsam schlenderte er zurück, zwei große Feuerwehrautos standen vor dem Nachbarhaus. Es rauchte und qualmte und stank. Er hatte einen guten Job gemacht. Guter Plan, perfektes Timing. Das sollte ihm mal einer nachmachen.

„Ja um Gottes Willen, was ist denn hier los?”

Der Nachbar stand in der Grillschürze auf der Straße. Die Kinder klammerten sich an die Mutter.

„Plötzlich war da Feuer. Gut, dass wir alle im Garten waren. Es hat sich total schnell ausgebreitet. Sie werden das Haus nicht retten können.”

Karl legte dem Nachbarn tröstend eine Hand auf die Schulter.

„Das ist ja furchtbar, wie schnell sowas gehen kann. Falls ihr heute Nacht eine Bleibe braucht”, er deutete auf sein Haus, „dann kommt ihr zu mir. Ich hab’ genug Platz.”

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