Schönen Sonntag
Stundenlang hatte sie ihm wieder erzählt, wie schön früher alles war. Dass sie nie gedacht hätte, einmal im Altenheim zu landen, wo sie doch einen Sohn hatte.
„Du weißt, dass das nicht geht. Wegen der Arbeit.”
„Deine Schwester hätte mich zu sich genommen.”
Die Falten um ihren Mund wurden ein klein wenig tiefer, sie spitzte die Lippen. Gleich würde noch eine Bemerkung kommen. Wie er das Schmatzen hasste, wenn sie zu reden begann. War ihre Zunge am Gaumen festgeklebt und musste erst gelöst werden? Er zündete sich eine Zigarette an und griff zu seinem Handy.
„Hallo, ach du bist’s. Ja, kann ich machen. Ja, ich beeil mich. Muss nur noch meine Mutter zurückbringen. Wir sind gerade spazieren.”
Seine Mutter fuhr mit den Fingern die Karos auf der Wolldecke nach.
„Musst du schon wieder gehen?”
„Ja, leider, es ist etwas dazwischen gekommen.”
Flott schob er sie zum Altenheim zurück. Vor dem Eingang saßen andere Insassen in der Sonne.
„Ah, der Herr Sohn ist heute da, dir geht’s aber gut!”
Seine Mutter beachtete die anderen nicht. Sie war immer noch mit dem Karo der Wolldecke beschäftigt.
„Den Rest schaffst du alleine, oder? Schönen Sonntag noch.”
In nur zehn Minuten war er zurück in seiner Straße, es war wenig Verkehr. Die 60er spielten heute nicht und bei dem schönen Wetter waren die meisten ins Grüne gefahren. Sicher aßen sie perfekte bayerische Schmankerl mit ihren perfekten Kindern an einem perfekten Ort. Straßlach oder Waldwirtschaft. Danach fuhren sie heim zu Tagesschau und Tatort. Im Garten gegenüber stand sein Nachbar am Kugelgrill, die beiden Kinder hüpften Trampolin, die Mutter stellte Schüsseln auf den Tisch.
Jetzt oder nie. Er ging in den Keller. Den Rucksack hatte er schon lange vorbereitet. Eines der wenigen Erbstücke seiner Schwester. Jeder hatte sie gemocht, es gibt so Typen. Dafür konnte sie ja nichts. Er hatte sie schließlich auch gemocht. Nun lebte er allein in dem Haus in Neuharlaching, in dem sie zusammen aufgewachsen waren. Damals, als alles so schön gewesen war. Seine Schwester war gerne in die Berge gegangen, manchmal hatte sie ihn mitgenommen. Damit du auch mal rauskommst. Sie war echt nett gewesen, jetzt war sie tot. Schon lange. Seitdem hatte Mutter nie mehr gelacht.
Er kontrollierte, ob alles an seinem Platz war und legte den Rucksack an.
„Hallo Karl, gehst’ zum Wandern?”
Ausgerechnet jetzt musste der Nachbar ihn ansprechen. „Fast. Nur ein bisschen in den Park. Hab’ eine Brotzeit dabei und ein Bier. Man gönnt sich ja sonst nichts.” Er tätschelte seinen Rucksack und schaute dem Nachbarn fest in die Augen.
„Gute Idee, schönen Abend!” Der Nachbar wandte sich wieder dem Grill zu.
Karl ging zur Rückseite des Nachbarhauses. Dort standen nah am Haus die Mülltonnen, darüber war der hölzerne Balkon, den sie vor ein paar Jahren angebaut hatten. Damit wir im Sommer draußen in der Sonne frühstücken können.
Das Benzin gluckerte leise, als er es über die offene Papiertonne goss. Selber schuld, wenn ihr so dicke Zeitungen lesen müsst. Die brennen besonders gut. Sicherheitshalber verteilte er um die Tonnen herum großzügig Benzin und beträufelte auch die Stützen des Balkons damit. Ein Dutzend Brandbeschleuniger hatte er zwischen die alten Zeitungen gelegt, sicher ist sicher.
Er liebte das leise Klirren seines Benzinfeuerzeugs und dessen große Flamme, die nur darauf gewartet zu haben schien, das Feuer zu entfachen – wie er. Der Wind stand richtig, die Thuja war vom Sommer vertrocknet und stand nah genug am Haus, um als zusätzlicher Brandbeschleuniger zu dienen. Das Feuer würde seinen Weg schnell finden. Er ging zum Park.
Kühl und bitter rann der erste Schluck Bier seine Kehle hinunter. Er hatte tatsächlich eine Brotzeit dabei, hatte also nicht gelogen. Diesmal nicht. Er dachte an seine Mutter. Immer fiel sie auf den Trick mit dem Handy rein. Wer hätte ihn schon anrufen sollen. Als er Sirenen hörte, schaute er auf die Uhr. Zwanzig Minuten waren vergangen, seit er das Feuer gelegt hatte. Die Sirenen kamen näher. Er schloss die Augen und ließ sich die Sonne aufs Gesicht scheinen. Wie friedlich sich das anfühlte. Wie warm und mütterlich, obwohl sie so weit weg war.
Er dachte an die Beerdigung seiner Schwester. Warum sie, hatte seine Mutter damals gesagt. Warum ich, dachte Karl oft. Warum bin ich übrig und muss mich um dich kümmern? Bis zu seinem zweiundfünfzigsten Lebensjahr hatten sie zusammen im Haus gewohnt, sie hatte ja sonst niemanden. Keine seiner wenigen Freundinnen hatte das lange ausgehalten. Sie oder ich. Als sie die Treppe nicht mehr steigen konnte, kam sie in ein Heim. In der Nähe. Damit er sie täglich besuchen konnte.
Langsam schlenderte er zurück, zwei große Feuerwehrautos standen vor dem Nachbarhaus. Es rauchte und qualmte und stank. Guter Plan, perfektes Timing. Das sollte ihm erstmal einer nachmachen.
„Ja um Gottes Willen, was ist denn hier los?”, rief Karl beim Näherkommen.
Die Kinder klammerten sich an die Mutter. Der Nachbar stand in der Grillschürze auf der Straße. „Plötzlich war da Feuer. Gut, dass wir alle im Garten waren. Es hat sich total schnell ausgebreitet. Alles verloren … unrettbar …”
Karl legte dem Nachbarn tröstend eine Hand auf die Schulter.
„Furchtbar, wie schnell sowas gehen kann. Falls ihr heute Nacht eine Bleibe braucht …”, er deutete auf sein Haus, „… dann kommt ihr zu mir. Ich hab’ genug Platz.”