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Kurzgeschichte Nr. 6

Die große Reise

„Wie war dein Flug?”
Lily hatte nicht viel davon mitbekommen. Die letzten Nächte war sie zu aufgeregt gewesen, um zu schlafen. Sowie sie im Flieger gesessen war, waren ihr die Augen zugefallen. „Gut”, sagte sie. „Plötzlich waren wir in Calgary.”
Die Ankunftshalle war verwirrend groß. Jeff hatte Lily gleich entdeckt und ihr zugewunken. Lily hatte nur ein einziges Mal mit seiner Frau Rachel geskypt, aber er kannte ihr Foto von der Website. Er nahm ihr den Koffer ab, legte seine Hand auf ihre Schulter und schob sie Richtung Ausgang.
„Da lang. Ich parke da hinten.”
Die Luft war kühl, die Sonne stand noch tief.
„Hast du Hunger? Wir könnten frühstücken gehen, bevor wir die weite Strecke fahren.”
Lily hatte seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen, sie hatte den Flug ohne Verpflegung gebucht. Der SUV fuhr wie ein schnurrender Dampfer die leere Straße entlang. Das Auto roch leicht nach Pferd, auf den Sitzen waren Hundehaare.
„Ist Rachel zuhause? Ich freue mich, sie kennenzulernen.”
„Sie macht noch dein Zimmer sauber, deine Vorgängerin ist erst gestern abgereist. Rachel freut sich auch schon sehr auf dich. Schön, dass du endlich da bist!”
„Hat gedauert. Stimmt. Unsere erste E-Mail ist ein Jahr her.”
„Das ist oft so. Die Entscheidung fällt nicht leicht, für drei Monate alles hinter sich zu lassen. Man hat ja ein Leben.”
Jeff fuhr vom Highway ab. Die Route führte in dichten Wald. Kiefern und Fichten beschatteten die Straße, ab und zu erhaschte Lily einen Blick auf sonnenbeschiene Farne, die zwischen den Bäumen wuchsen. Sie kamen an einem verlassenen Parkplatz vorbei, eine umgekippte Mülltonne deutete auf Bären hin. Nach drei Meilen kam eine Siedlung in Sicht.
„Da vorne ist das Diner, und der Shop. Unsere Versorgungs­station, könnte man sagen. Es gibt dort nicht viel, aber alles, was man braucht.”
Sie hielten vor einem weiß getäfelten Flachbau. Auf den Fensterbrettern standen Blumenkästen mit Daisys, auf einer handgeschriebenen Tafel wurden die Gerichte des Tages angeboten. Vor dem Haus waren zwei Zapfsäulen, abseits davon eine weitere für LKWs.
„Die letzte Station vor der Wildnis”, sagte Jeff. Kauf, was du brauchst. So schnell kommen wir nicht wieder hierher. Aber erstmal frühstücken wir.”
Sie setzten sich ans Fenster. Der Tisch war mit einer gerillten Metallkante abgesetzt, die roten Kunstlederbänke knarzten, als sie sich niederließen. Thermoskannen mit der Aufforderung help yourself standen auf den Tischen. Jeff goss sich einen Becher Kaffee ein.
„Hallo Jeff, guten Morgen, lange nicht gesehen. Wie geht’s Rachel? Was darf ich euch bringen?” Die Bedienung reichte ihnen die Speisekarten.
„Hi. Danke, gut. Ich nehme das gleiche wie immer. Und du, Lily?”
Kurz darauf aß Lily ihre ersten kanadischen Pancakes mit Ahornsirup und trank dazu Milchkaffee aus einem Pappbecher.
„Manchmal brauche ich frisches Fleisch”, sagte Jeff und schnitt ein Stück von seinem Steak ab. Roter Saft lief auf den Teller. Wir haben selten Fleisch, Rachel mag es nicht, aber ich brauche es. Ab und zu.”
„Ich bin Vegetarierin, mehr der Beeren- und Sammlertyp. Voll das Klischee.” Lily rührte in ihrem Pappbecher und schaute aus dem Fenster. Irgendetwas an Jeff fand sie seltsam. Vielleicht die Art, wie er sein Steak aß. Gierig und behutsam zugleich.
„Die Männer, die bösen Jäger.” Er lachte, aber das Lachen erreichte seine Augen nicht. Lily dachte an die Wildnis, durch die sie gleich fahren würden. Sie fröstelte.
„Hast du zuhause Bescheid gegeben, dass du gut angekommen bist? Spätestens in dreißig Meilen wirst du keinen Empfang mehr haben. Sag deinen Eltern, dass du in guten Händen bist. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, wenn sie die nächsten Tage nichts von dir hören.”

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